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Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V.

Montag, 02.06.2003


02.06.03 Grundsatzpapier zur Verfassungsbeschwerde in Sachen Kopftuch



Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) beobachtet mit Sorge die in der Öffentlichkeit seit Jahren bestehende, z.T. emotionale und unsachliche, Diskussion um das Tragen des Kopftuches durch muslimische Frauen an öffentlichen Schulen. Der ZMD begleitete und unterstützte die Anliegen betroffener Musliminnen in mehreren Bundesländern und gab mehrmals Stellungnahmen zum Thema Kopftuch ab. Im Hinblick auf die mündliche Verhandlung und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache möchten wir gerne in diesem Grundsatzpapier die verschiedenen Aspekte dieses Themas aus unserer islamischen Sicht und insbesondere aus der Sicht der betroffenen muslimischen Frauen zusammenfassen.

I. Islamische Grundsätze

1. Die Kleidervorschriften für Männer und Frauen sind Bestandteil der islamischen Lehre. Ihre Befolgung gehört somit zum islamischen Glauben und zur islamischen Lebensweise. Dazu gehört die Kopfbedeckung für Frauen, die durch alle Rechtsquellen im Islam, das sind der Koran, die Tradition des Propheten (die Sunna) und der Konsens, belegbar ist.

2. Die Kleidervorschriften gelten als Pflicht ab der Geschlechtsreife. Auch vor diesem Alter sollen bestimmte Teile dieser Vorschriften, z.B. Bedeckung der Geschlechtsteile, aus erzieherischen und gesellschaftlichen Gründen beachtet werden.

3. Die Kopfbedeckung für Frauen wird durch folgende Rechtsquellen belegt:

3.1. Der Koran:

Der Koran erhob die zur Zeit der Offenbarung allgemein geltende Sitte der Kopfbedeckung zur Vorschrift und präzisierte dieses mit den Worten: "... sie (die Frauen) sollen ihre Kopftücher auf den Brustschlitz ihres Gewandes schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen..." Der Koran machte es somit zur Pflicht, die Kopfbedeckung nach vorne zu schlagen, und damit Hals, Ausschnitt und Brust zu bedecken.
Andere Einzelheiten, die zu den Kleidervorschriften für beide Geschlechter gehören, sind dem vollständigen Text des bereits oben aufgeführten Verses zu entnehmen:

"Sag zu den gläubigen Männern, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten. Das ist lauterer für sie. Gewiss Allah ist kundig dessen, was sie machen. Und sag zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken, ihre Scham hüten, ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer dem, was (sonst) sichtbar ist. Und sie sollen ihre Kopftücher auf den Brustschlitz ihres Gewandes schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihrer Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, denen, die ihre rechte Hand besitzt, den männlichen Gefolgsleuten, die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, den Kindern, die auf die Blöße der Frauen (noch) nicht aufmerksam geworden sind. Und sie sollen ihre Füße nicht aneinanderschlagen, damit (nicht) bekannt wird, was sie von ihrem Schmuck verborgen tragen. Wendet euch alle reumütig Allah zu, ihr Gläubigen, auf dass es euch wohl ergehen möge!"

3.2. Die Sunna:

Von der Befolgung dieser Vorschriften, insbesondere der Kopfbedeckung für Frauen, wird ohne Ausnahme in der Sunna, der Lebensweise des Propheten, berichtet:

A´isha, die Frau des Propheten, berichtet, dass der Prophet seinen Blick von ihrer Schwester Asmaa abwandte, als diese einmal mit durchsichtiger Kleidung zu ihm kam. Er sagte zu ihr: "Asmaa, wenn eine Frau ihre erste Regelblutung hatte, soll man nichts von ihr sehen, außer diesem und diesem." Und er zeigte dabei auf sein Gesicht und seine Hände.

3.3. Der Konsens:

Bei allen sunnitischen und schiitischen Rechtsschulen besteht Konsens darin, dass die Kopfbedeckung für Frauen zu den Kleidungsvorschriften gehört, die verpflichtenden Charakter haben. Bei den sunnitischen Rechtsschulen - der hanafitischen, der hanbalitischen, der shafiitischen, und der malikitischen -, sowie bei der Rechtsschule der schiitischen Zwölfer Imame gilt die Kopfbedeckung unumstritten als Pflicht (arabisch: Wadschib) für muslimische Frauen.


4. Die Vollverschleierung (die Gesichtsbedeckung) galt laut koranischer Aussage als Pflicht nur für die Frauen des Propheten, nicht aber als allgemeine Pflicht für andere muslimische Frauen. Nur in einigen besonderen Fällen sehen einige Gelehrte die Pflicht der Vollverschleierung für einzelne Frauen gegeben.

5. Gebote und Vorschriften des Islam sollen bewusst befolgt werden. Die Befolgung soll aus Überzeugung und freiem Willen erfolgen, weshalb der Koran und die Prophetensprüche immer wieder den Sinn dieser Vorschriften, die negativen Folgen für die Gesellschaft durch ihre Missachtung und die Belohnung im Jenseits für ihre Beachtung erläutern.

6. Das Nichttragen des Kopftuches bedeutet nicht die Abkehr vom Islam und gilt islamisch gesehen für sich allein nicht als Maßstab für die Frömmigkeit der Einzelnen.



II. Zur Praxis

1. Das Kopftuch ist im Islam nicht als Symbol vorgesehen. Das Tragen des Kopftuches bedeutet für die meisten Trägerinnen eine reine Ausübung einer individuellen Pflicht, die man genauso vor Gott erfüllt, wie man das Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt oder sonstige Vorschriften befolgt. Wäre es dem Islam an der Symbolwirkung des Kopftuches gelegen, hätte seine Lehre auch den Männern entsprechende Symbole vorgeschrieben. Dies ist bekanntlich nicht der Fall.

2. Das Kopftuch hat im Islam weder die Bedeutung einer Kennzeichnung, noch ist es als Missions-, Demonstrations- oder gar Provokationsmittel vorgesehen. Dies wird von den meisten muslimischen kopftuchtragenden Frauen in Deutschland so betrachtet.

3. Die langjährige Erfahrung kopftuchtragender Lehrerinnen an öffentlichen Schulen in mehreren Bundesländern zeigt, dass das Kopftuch in der Regel weder von den Lehrerinnen als Symbol oder Missionierungsmittel benutzt wird, noch von den Kindern und Eltern als Provokationsmittel empfunden wird. Dem ZMD liegen detaillierte Erfahrungsberichte darüber vor, die dem Gericht auf Wunsch vorgelegt werden können - jedoch ausdrücklich verbunden mit der dringenden Bitte um vertrauliche Behandlung bzw. darum, Angaben, die zur Identifizierung der betroffenen Lehrerinnen bzw. deren Schulen oder der zuständigen Schulbehörden führen könnten, nicht, insbesondere nicht an die Behörden oder die Presse etc., weiterzugeben.

4. Der Zwang zum Tragen des Kopftuches, der durch manche Eltern ausgeübt wird, widerspricht in vielerlei Hinsicht dem erzieherischen Ziel des Islam und verkennt sein Wesen als direktes Verhältnis zwischen jedem einzelnen Menschen und Gott. Das Nichttragen des Kopftuches sollte trotz der großen Bedeutung dieser islamischen Vorschrift nicht zu Ausgrenzung innerhalb der Familie und der Gemeinde führen.


III. Das bevorstehende Urteil des BVG

1. Das bevorstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird eine dauerhafte in alle Bereiche unserer Gesellschaft reichende Auswirkung haben. Ein positives Urteil würde viele muslimischen Frauen in ihrer Überzeugung stärken, als muslimische Bürgerinnen dieses Staates ihm dienen zu können, ohne auf die Ausübung für sie elementarer Glaubensüberzeugungen deshalb verzichten zu müssen. In vielen Ländern der Europäischen Union ist ein solcher Zustand seit Jahrzehnten eine positiv erlebte Praxis, z.B. mit kopftuchtragenden Polizistinnen in Großbritannien und kopftuchtragenden Lehrerinnen in mehreren europäischen Ländern.

2. Das Tragen des Kopftuches ist eine reine individuelle Ausübung der religiösen Überzeugung und sollte als solche durch das Grundgesetz (Art. 4.2) und die "Allgemeine Menschenrechtserklärung" (Art. 18) geschützt werden. Die Benachteiligung muslimischer Frauen bei der Ausbildung und im Berufs- und Beamtenleben wegen Ausübung dieses Grundrechts empfinden wir als grobe Verletzung der Prinzipien unseres Rechtsstaates.

3. Die Verweigerung der Aufnahme muslimischer Lehrerinnen in den öffentlichen Schuldienst wegen des Tragens des Kopftuches würde praktisch einem Berufsverbot für praktizierende Musliminnen gleich kommen.

4. Ein ablehnendes Urteil würde mit Sicherheit negative Signalwirkung in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens haben und zu weiteren Diskriminierungen nicht nur durch Staat und Verwaltung, sondern auch im Wirtschaftsleben und seitens der Parteien und Verbände ermutigen. Dies führt mit Sicherheit zu allgemeiner Verunsicherung muslimischer Jugendlicher bei der Wahl ihrer Ausbildung und ihres Berufes.

5. Die Unterdrückung des freien Willens einzelner muslimischer Frauen, den Lehrberuf als kopftuchtragende Frau auszuüben, bedeutet eine massive Einschränkung ihres Rechts auf persönliche Entfaltung in unserer Gesellschaft und wirkt sich kontraproduktiv auf die Integration von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern islamischen Glaubens aus.