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Euro-islam

Sonntag, 03.02.2002



Juliane B. schrieb:


Liebe Freunde vom Islam

Der Artikel des bosnischen Freundes hat mich zutiefst erschüttert, aber er ist typisch für die Problematik. Zwei Millionen Moslime leben heute in der Bundesrepublik Deutschland - das ist für mehr als eine Glaubensgemeinschaft ein Grund gewesen, sich in diesem Lande heimisch zu fühlen und eigene Regeln zu entwickeln. Zum Beispiel stimmt das Glaubensleben der Mormonen in Deutschland auch nicht in allem mit dem Glaubensleben der Mormonen in den USA überein. Was daran "echter" ist und was nicht, darüber kann man streiten. Es leben auch wieder eine wachsende Anzahl Juden unter uns, deren Glauben sehr vielfältig ist, und das deutsche Judentum hat traditionell zum Beispiel wenig zu tun mit dem sagen wir der Lubawitscher. Ein deutscher Katholik sieht das Christentum, selbst wenn er nicht allzu interessiert ist, anders als ein Katholik in Brasilien und so weiter. Auch der Islam hat in seiner Geschichte in den verschiedenen Kulturen verschiedene Gesichter angenommen, ich denke nur an den Unterschied zwischen dem Islam Nordafrikas und dem Indonesiens.

Grundlage im Islam ist, neben der Zwanglosigkeit des Glaubens, das bedeutet, der Freiheit persönlicher Frömmigkeit, die Auffassung, daß alles Existente Allah gehört - auch das, was uns vielleicht nicht gefällt, und vor dem wir uns fürchten. Es gibt im Islam von den Grundlagen her keine Wissenschaftsfeindlichkeit und auch keine Technophobie, denn in aller Erkenntnis des Menschen wird sozusagen Allah offenbart. Der Islam ist oder könnte sein eine weltoffene, die Seelen befreiende Institution, in der viele, die heute die Orientierung verloren haben, Zuflucht finden könnten. Auch das "Böse" des ist laut Koran Allah unterstellt. Einen "Teufel" als selbständige Instanz neben Allah kann es nicht geben. Der Koran erkennt auch richtig, daß die Unvollkommenheit des Menschen, seine Veranlagung, Dinge auch zu mißbrauchen, in seiner Natur liegt und von Allah allzeit vergeben wird - es sei denn, der Mensch erweise sich als unbelehrbar. Dann wird das, sagt der Koran, auch seinen Grund haben. Denn "Allah leitet recht wen er will". Der Mensch soll sein Leben auf die Tatsache hin ordnen, daß er es eines Tages wird verantworten müssen, falls er das zuwege bringt, wobei der Koran helfen soll, braucht er sich um sein jenseitiges Leben keine Sorgen zu machen.

Unser Freund hier meint, man könne das alles tun und würde doch nicht akzeptiert werden. Das halte ich für den Gedanken einer schwarzen Stunde, denn WAS ist es denn, was den Deutschen so schwer zu akzeptieren ist? Doch nicht das Gebet, nicht der Hadsch und auch nicht die Zakat. Um dergleichen Dinge pflegen die Deutschen sich kaum zu kümmern, kümmern sie sich doch nicht einmal um die Grundlagen ihrer eigenen Kultur, nämlich das Christentum.
Viele Religionen sind in Deutschland mittlerweile heimisch und erregen kaum je Aufsehen. Warum ist das beim Thema Islam anders? Was macht den Leuten Kopfzerbrechen und Gänsehaut, wenn sie an Islam denken? Da ist einmal die amerikanischer Propaganda, die wie alle Kriegspropaganda auch von dieser Seite her ungerecht sein muß - die islamischen Staaten gehen mit ihrem USA-Bild auch nicht gerade zimperlich um, danach kann man sich also nicht richten. Da ist zum Andern die schier undurchdringliche Fremdheit, die er Islam in Deutschland bis heute bewahrt hat - er ist ein orientalischer Fremdkörper in der europäischen Kultur, nicht ein integrierter Bestandteil derselben. Selbst hier in Berlin, wo er allgegenwärtig ist, ist er noch exotisch und das nach mehreren Jahrzehnten. Auch die zweite und dritte Generation der Moslems in Deutschland begreift sich noch als "eigentlich woanders her" und ist mehr Türke, Araber und eben auch Bosnier als deutscher Moslem. Das kann man natürlich als Ohrfeige verstehen, wenn man Deutscher ist, selbst wenn man wie ich kein Christ ist, sondern religiös absolut neutral. Der Staat unternimmt entsprechend seinem Verfassungsauftrag aus Artikel 4 GG weder etwas für noch gegen den Islam. Im Gegenteil, es wurden etliche Vorstöße der USA in dieser Richtung gerade in letzter Zeit mit erheblichem politischem Geschick abgeblockt. Die Deutschen sind verbal sehr beflissen, haben es aber de facto nicht gerade eilig, in die Hysterie aus Übersee allzu sehr involviert zu sein.
Aber damit wären wir beim Punkt Drei. Das verhinderte oder falsche Selbstbild, das der Islam in Deutschland vermittelt, fördert alle Arten von Vorurteilen und Spekulationen. Wenn man nun den Koran liest und dabei auf diese Worte stößt. "Bekämpft auf Allahs Weg die euch bekämpfen", so kann man den Islam nicht gerade pazifistisch nennen. Das Christentum mußte, um Kriege zu führen, gegen seine Bibel verstoßen - der Islam muß das nicht tun. Er muß nur nachweisen, daß er nicht angefangen hat. Die Geschichte des Islam zeigt aber, daß es von Anfang an "Übergriffe" gegeben hat, denn Andalusien, Nordafrika, Indien, Persien, Ägypten und die Türkei sind nicht von sich aus (wenigstens teilweise) islamisch geworden und so fort. Der Islam hat also, obgleich er das niemals mußte, auch gegen seine Grundlage verstoßen und zwar eher als seinerzeit das Christentum. Daneben sind auch innerhalb des Islam viele Kriege geführt und vieles Gewaltsame getan worden, ich erinnere nur an das armenische Massaker in der jüngeren Vergangenheit. Das heißt nur: Friedensengel sind sie nicht gerade, die Moslems. Dazu schließen sie sich auch in Deutschland ab wie in Feindesland, es gibt, wie ich informiert bin, nicht gerade ein Wettrennen um die deutsche Staatsbürgerschaft und viele Moslems sprechen auch nach Jahrzehnten in Deutschland noch nicht flüssig die Landessprache, übrigens auch junge Leute nicht, die hier aufwuchsen. Sie wuchsen ja auch nicht in Deutschland auf, sondern in Enklaven: türkischen, bosnischen, arabischen. Unter solchen Umständen ist zumindest verständlich, warum Deutsche in Sachen Islam in größerer Zahl mißtrauisch sind als zum Beispiel gegen Juden oder Mormonen oder Buddhisten (es gibt viele deutschen Buddhisten).
Wie man sieht, habe ich die "Frauenfrage" ausgeklammert, einmal weil sie von der Propaganda meiner Ansicht nach mißbraucht wird, zum Zweiten, weil das eine Angelegenheit ist, die der Islam aus sich selbst klären muß. Auch das Judentum hat mehere tausend Jahre benötigt, bis die erste Rabbinerin ihre Predigt hielt. Aber die heutigen liberalen Gemeinden sind aus dem Judentum heraus entstanden und nicht von außen verordnet worden, und das hat so auch im Islam zu geschehen und nicht anders.
Aber es führt uns dennoch zum Thema zurück, denn wie es ein liberales Judentum geben konnte, so kann es auch einen Islam geben, der, wiewohl korantreu, doch den Schwerpunkt auf die Tatsache legt, daß er nicht im Orient, sondern in Europa heimisch ist. Denn Europa ist heute mitnichten "christlich", sondern im Vergleich mit Übersee zum Beispiel sehr weitgehend profaniert. Wer seinen Glauben leben möchte, kann das in Europa auf alle möglichen Weisen tun und wer diesen Glauben öffentlich vertreten möchte, auch. Ob er sich damit durchsetzt, ist eine andere Frage. Auch die Kirchen haben sich gerade in letzter Zeir in vielen Fragen nicht durchgesetzt oder nur Kompromisslösungen erreicht. Wir stehen also, wenn wir es recht sehen, auf ziemlich neutralem Boden und fruchtbar ist er auch noch, denn der Islam ist, wie schon gesagt, wesentlich "zivilisationstauglicher" als das Christentum je werden kann und das Judentum desgleichen. Diese beiden Religionen müssen stets Abstriche machen, wenn sie sich der Zivilisation anpassen möchten; der Islam hingegen muß das nicht. Warum steht aber ausgerechtnet er für "Zurückgebliebenheit"?
Es tut mir wirklich leid, aber es ist, weil Moslems ihren eigenen Wert nicht schätzen. Das geht bereits bei der Grundlagenkenntnis los: welcher Moslem kennt schon wirklich seinen Koran? Warum nicht? Weil er bis heute in Übersetzungen nicht anerkannt wird, aber die Mehrheit der Moslems in der Welt heute schon nicht mehr Arabisch als Muttersprache spricht. Andererseits sollten Muslime alles tun, um den "Ungläubigen" die Welt der Hadithe zugänglich zu machen, denn nur aus diesen kann man den heutigen Islam wirklich verstehen. Freilich setzen sie sich damit auch der Kritik aus - man wird Manches an Koran und Hadithen nicht mehr recht zeitgemäß finden. Ja, ich weiß, aber solch eine Entwicklung hat auch das Christentum hinter sich und zwar vom siebzehnten bis hin ins neunzehnte Jahrhundert hatte es in Sachen Zeitgemäßheit einen schweren Stand. Aber nun wurde die Bibel der Textkritik unterzogen, auf einmal fiel es den Theologen auf, dass Menschen aus dem ersten und zweiten Jahrhundert u. Z. und früher vielleicht etwas anders dachten als wir heute denken und in einer etwas anderen Welt leben. Hat das dem Christentum geschadet? Nein, es hat nur Klarheit geschaffen. Es hat die Christen gelehrt, auf den inneren Gehalt ihres Glaubens zu hören und sich nicht mit Äußerlichkeiten zu verzetteln; wer diese liebt, wird auch im Christentum nicht gehindert, sie zu tun. Sicher, das hat dazu geführt, daß es heute in Deutschland zwar Kirchen aber keine "Volkskirche" mehr gibt. Der Qualität der Überzeugung hingegen hat es nur genützt.
Wir müssen uns vielleicht von der Auffassung verabschieden, daß jedes Komma im Koran der Wille Allahs ist (wer das möchte, kann es ja weiterhin glauben), aber wir werden auf diese Weise vielleicht zu einem Verstehen desselben kommen, das wir vordem für unmöglich hielten. Wir werden vielleicht einsehen müssen, daß vieles am Koran "Lokalkolorit" ist, aber wir werden auf der anderen Seite dafür vielleicht auch seine Universalität erkennen und seine Tauglichkeit für unsere Zeit und diese Kultur. Wir werden, um auf unseren Freund zurück zu kommen, es vielleicht aufgeben müssen, islamischer Bosnier in Deutschland zu sein, sondern uns neu definieren als deutscher Moslem mit bosnischer Herkunft. Kurzum, je weniger exotisch der Islam auftritt, um so mehr wird er akzeptiert werden. Und vielleicht, man bedenke, ist das auch eine Möglichkeit, unter den geborenen Deutschen Muslime zu finden, wenn diese deshalb nicht mehr Orientalen werden müssen. Was dem Islam hier fehlt, ist ein "Bonifatius". Nun, vielleicht findet er sich bald.

Sie werden uns auch dann nicht akzeptieren? Ich kann nur raten: man versuche es doch erst einmal und urteile dann. Daß gerade ein Bosnier das sagt, erschüttert mich noch mehr, denn ich kenne mich in der bosnischen Geschichte ein wenig aus und weiß, daß gerade der bosnische Islam zu den tolerantesten und offensten Spielarten desselben gehört oder wenigstens gehört hat. Als die byzantinische Kirche nämlich über die bogomilischen Kirchen auf dem Balkan siegte, da wurden diese hart unterdrückt. Als der Islam die byzantinische Kirche bedrohte, traten viele dieser Krypto-Bogomilen zum Islam über und mit ihnen gelangte viel von der bogomilischen Liberalität in dogmatischen Fragen in den Islam hinein. Nebenher auch viel von deren mystischem Erbe und Mystik tut einer Religion immer gut. Freilich ist sie nicht zu verwechseln mit "'Fakir-Folklore". Nun steht ein Bosnier hier, Erbe dieser Dinge, und verzweifelt. Lieber Freund, wenn Sie es nicht versuchen, wenn Sie nicht anfangen, werden Sie niemals erfahren, ob Sie recht hatten; Sie ganz persönlich. Von vornherein zu sagen: es geht nicht, bedeutet unaufrichtig zu sein. Ich meine, die Fragen sind zu ernst, um sie auf diese Art und Weise "abzubügeln". Denn es geht schließlich auch darum, ob der Islam sich als Religon mit Zukunft erweist oder folkloristisches Überbleibsel sein will, das zudem auch noch mißtrauisch beäugt wird. Als Religion mit Zukunft wird er sich wandeln müssen, denn was sich nicht bewegen kann, bleibt zurück. Es wäre in diesem Falle schade drum. Also - her mit neuen Theologien, her mit einer neuen Kultur des Islam, her mit einem neuen Selbstbewußtsein, das im Hier und Jetzt daheim ist und nícht im siebenten Jahrhundert u.Z.. Das wären meines Erachtens die ersten Grundlagen eines europäischen Islam.

Wie könnte der aussehen? Es wäre auf alle Fälle ein intelligenter Islam, denn der Koran insistiert immer wieder auf der Vernunft des Menschen. Er will nicht exotisch sein, sondern auf alle Fälle modern, das war er auch zu seiner Zeit und so ist er fortzuschreiben. Heute sieht der Islam in vielen Fällen eher aus wie ein Heimatmuseum, aber das ist von seinen Grundlagenher nicht notwendig. Offenbarung für alle Zeit bedeutet auch Offenbarung in dieser Zeit und was hat er uns hier und heute zu sagen, das uns keine andere Religion sagt? Er hat uns das Ja zur Welt zu sagen ohne Ausschluß von etwas. Das tut keine andere Religion. Er hat uns die Gleichheit aller Menschen vor Gott zu sagen, das tut ebenfalls keine andere Religion. Er hat uns einen Gott zu verkünden, der alles umfaßt, den, der an ihn glaubt wie den, der das nicht tut. Allah ist nach ihrem Selbstverständnis nicht nur der Gott der Muslime, sondern der Leiter und Lenker des gesamten Weltgeschehens. Der Unterschied zum Nichtmuslim ist nur, daß der Muslim diese Tatsache anerkennt und "Leitung annimmt". Was bedeutet das für sein tägliches Leben? Zunächst einmal ethische Integrität - er mag angefeindet werden, aber er selbst wird nicht anfeinden. Er mag betrogen werden, aber er selbst wird nicht betrügen.
Er mag bestohlen werden, aber er selbst wird nicht bestehlen. Andere mögen ihre Frauen züchtigen, er selber wird ein gesundes Verhältnis zum jeweils anderen Geschlecht haben. Andere mögen in der Welt verloren gehen, er wird immer und unter allen Umständen in der Gemeinschaft der Muslime geborgen sein. Aber diese Gemeinschaft steht ihrerseits mitten in der Welt, nicht ängstlich auf Traditionen bedacht, sondern offen für alles, was Gott noch mit ihr vorhaben mag. So ähnlich könnte es vielleicht dahin kommen, daß der Islam wie andere Religionen auch natürlicher Bestandteil der Weltkultur wird - in Europa auf seine Weise und in Afrika wieder anders und so fort.
Das würde auch jenen Elementen den Boden entziehen, die ihre politischen Interessen mit einem Kreuzzug wider den Islam bemänteln möchten und zwar auf beiden Seiten. Ich finde, diese Möglichkeit ist einen Versuch zur Verifizierung immerhin wert. Was meinen Sie dazu, insbesondere lieber Freund aus Bosnien?

Beste Grüße und "den Frieden der über alle Vernunft ist" wünscht

Juliane B. von der "Alternativen Arbeitsgemeinschaft für Erkenntnis"